Das Freiburger Münster nach Hans Rath
Arnold Stadler

I.
Schon viele Maler haben sich an diesem „Himmel in Stein", wie das Freiburger Münster ja auch genannt wird, abgemüht und haben viel Geld bekommen für Auftragswerke, Arbeiten, die nicht geglückt sind. Sie haben, zum Beispiel, diesen Turm einfach nicht „hingekriegt". Hans Rath ist der erste, den ich kenne, der dies geschafft hat. Seine Münsterbilder sind Meisterbilder. Dafür hat er mindestens den Reinhold-Schneider-Preis der Stadt Freiburg verdient. Das geht über jedes Stipendium hinaus. Einer, der diese Bilder gemalt hat, muß nicht mehr und kann nicht mehr gefördert werden.
Wenn es nicht gesundheitsschädlich wäre, wollte ich diese Bilder abschlecken, so schön sind sie. Man verzeihe mir den Gebrauch des von der Kritik verworfenen Wortes schön im Frühjahr 2000 im Zusammenhang mit Kunst, die ja längst etwas anderes zu sein hat als schön. Ich bin sehr dafür, daß man diese Kirche als schön bezeichnen darf, ungestraft, und also auch diese Außenansichten des Münsters, um solche handelt es sich durchweg bei Hans Raths geglückten Versuchen.
Er hat es von außen gesehen, was zu sehen war, hat, auf einer Art Melkschemel sitzend Skizzen gemacht, gemalt und gemolken, das heißt, hat herausbekommen, hat etwas herausbekommen von innen her, im Gegensatz zum verehrten Kokoschka, dessen Münsterbild eine Außensicht bleibt.
Hans Rath saß auf einem Campingstuhl oder seinem Melkschemel, auch im Regen, dann unter einem Schirm, und die Touristen haben sich schräg hinter ihn gestellt und verglichen, ob er den Turm hinbekommt und vielleicht gedacht, daß es sich bei diesem Menschen um ein seltsames oder vielleicht nur seltenes Exemplar handeln muß, das da unter einem Schirm auf einem Campingstuhl im Regen sitzt und versucht, diesen berühmten Turm hinzukriegen. Sie haben, dachten sie, solche Exemplare auch schon auf den Stufen von Sacre Coeur sitzen gesehen oder vor dem Markusplatz und man konnte auch alles erkennen. Schulklassen aus dem Elsaß sind vorbeigegangen und haben vielleicht gelacht oder einen dreckigen Witz gemacht. Immer schon sind Türme vom Volk in einen phallischen Zusammenhang gebracht worden. Einzelne, Spaziergänger kamen vielleicht vorbei und haben den Maler zur Rede gestellt, was er da mache und ihn vielleicht darauf hingewiesen, falls es sich um autochtone und gebildete Spaziergänger handelte, daß es vergebliche Mühe sei: dieses Münster in ein Farb- und Formereignis auf Leinwand zu bringen, sei bisher noch keinem geglückt: er solle aufhören damit und den Münsterplatz verlassen, lieber an den Rimsinger Baggersee gehen und etwas hinausschwimmen. Da haben sie sich aber getäuscht!
Es mußte einer aus der Gegend des römischen Trier an der Mosel kommen, wo man noch im Frühmittelalter einen lateinischen Dialekt sprach, um die klassischen Münsterbilder zu malen.
Nicht auszudenken, wenn bei dem kurzen Bombenangriff (27.11.44, am frühen Abend), bei dem das unverwechselbare Freiburg doch zerstört wurde, auch noch dieses Münster zerstört worden wäre. Zum Glück hat Reinhold Schneider mit einem Gedicht rechtbehalten: ,,Du wirst nicht fallen, mein geliebter Turm!" – Das war einmal, als glauben und beten noch geholfen hat. Aber mehrere tausend Menschen und Freiburger wurden in einer Nacht doch getötet, und einige hat man noch, wie man mir sagte, tagelang aus verschütteten Umgebungen schreien oder rufen oder auch nur stöhnen gehört. Allein das Münster blieb stehen, und wenn es in Freiburg ein Wunder gibt, dann ist es dieses.
Ach, ich würde am liebsten ein bildschönes Gedicht machen oder ein kunstvolles „kunstlos Lied" – oder malen können wie Hans Rath. Vielleicht wird mir eines Tages ein Gedicht auf das Münster gelingen, denn das ist das einzige, was ich besingen, bedichten oder einfach nur vergegenwärtigen wollte von Freiburg, wo ich über zwanzig Jahre gelebt habe; und immer suchte ich mir meine Fenster, Zimmer und Wohnungen danach aus, ob es einen Münsterblick gab oder nicht. Entschuldigung! – wie Professor Vögtle, Neutestamentler an der Uni Freiburg erst einmal zu sagen pflegte, wenn er etwas sagen wollte: Entschuldigung – seitdem der letzte Stein da oben angekommen ist und uns von da eine Idee himmlischer Schönheit vermittelt, hat es nichts dergleichen mehr gegeben in Freiburg. Die sogenannten Bächle, abgesehen davon, daß sie doch nichts anderes als Elemente des Kanalisationssystems sind, waren mir doch immer nur eine Erinnerung daran, daß ich nicht am Meer war. Und da ich außerdem kein Fußballfan bin, was man mir verzeihen möge, denn es gibt kaum noch einen Schriftsteller oder Intellektuellen auf der Welt, der nicht Anhänger des Freiburger Fußballclubs wäre, der längst berühmter ist als das ganze Münster mit seinem Turm – da ich nicht einmal weiß, wie die Regeln eines Fußballspiels sind (die Welt, aus der ich komme, ist so klein, daß wir auf dieses Spiel verzichten mußten), will mir die Besonderheit dieses Clubs nicht einleuchten.
Im Gegensatz zu diesem Münster, das mir geradezu einleuchtet. Meine Augen sind gut. Bald fünfzig Jahre alt und viel gelesen und gesehen habend, brauche ich immer noch keine Brille. Ich sehe, und es leuchtet mir ein: Hans Rath hat den Turm hingekriegt. Vulgäre Psychologen sehen ja in jedem Turm, also jenem Gegenstand, der länger als breit ist und nach oben zeigt, ein Phallussymbol. Sie deuten den Turm als Imponiergehabe von einst, vergleichbar einem Testarossa von heute oder einem Turm von heute: NY, Ffn, Chicago. Der Münsterturm ist trotzdem schöner. Oder nicht? Und irgendwie höher, einfach überragend. Ich hoffe, daß ich nicht der einzige bin, der denkt wie ich. Und daß es mehr Freiburger gibt, die eher auf den Fußballclub als auf das Münster verzichten wollten.
Als ich das erste dieser Münsterbilder von Hans Rath sah, wollte ich es gleich haben, derart war mein Hunger. Und ich habe ihn zu weiteren Bildern gedrängt, das schwöre ich bei meiner Begeisterung. Wer wird denn heute noch so ein Bild malen, das ich den Ikonen von einst vergleiche. Das Jahr 1999 bezeichnet den Beginn des Aktienfiebers. 2000 grassiert dies als Virus: Was will ein Aktienbesitzer mit einem Heiligenbild anfangen, bitteschön? Selbst Achtzigjährige kaufen noch Aktien heutzutage, anstatt den Rosenkranz zu beten und investieren immer noch bis zuletzt. Einer Fünfundsiebzigjährigen, die ein ganzes Telecom-Paket erwarb und nun ihre Tage damit verbringt, das Endlos-Band der neuesten Kurse im News-TV zu studieren, mußte ich drohen: entweder ich oder die Aktien. Ich habe sie dazu bringen wollen, die Aktien zu verkaufen, und dafür sämtliche Münsterbilder von Rath zu kaufen. Vergebens: Das sei keine Kapitalanlage. Dieser Frau ist nicht mehr zu helfen. Es nützte mir gar nichts, aus Wut oder Verzweiflung über diese Welt in die oberste Treppenstufe zu beißen oder auch nur ins Kopfkissen oder gleich zu weinen. Aber zum Glück gibt es immer noch Menschen wie mich, Entschuldigung, die Aktien gegen Bilder eintauschen würden, oder wenn sie keine Aktien haben und auch sonst nicht finanzfrisch sind, diese Bilder sehen und lieben. Oder einfach nur bewundern und beneiden. Ich weiß von Malerkollegen, die wutschnaubend nach Hause gingen und ihre Lappen und Pinsel gegen die Wand werfen wollten, und sie bestrafen wollten dafür, daß sie ihre Dienste versagten. Soviel Aggression ist auf der Welt, seitdem Kain seinen Bruder Abel erstmals erschlug. Das war gleich nach dem Paradies. Es gibt Maler, die arbeiten mit Polaroid, und es sind wunderbare Bilder herausgekommen, bei Andy Warhol zum Beispiel, dem das Freiburger Münster entgangen ist, oder David Hockney, der gewiß das Polaroid aufs genaueste abgemalt, ich zweifle aber, ob er den Turm hingekriegt hätte, bei dieser Art von Malerei. Was ist eigentlich malen? Erwarten Sie bitte von mir dazu und auch nicht zu den Münsterbildern einen kunsthistorischen oder kritischen Exkurs! Ich komme aus einer Gegend, auf deren Verkehrsschildern meist eine Kuh zu sehen ist oder sonst ein Tier. Ich komme geradezu aus einer Kuhgegend, von mir Fleckviehgau genannt.
Format, Technik, Leinwand, Höhe und Breite etc. entnehmen Sie bitte dem Katalog, und auch, wer sonst solche Kirchenbilder gemalt hat, Monet fällt mir dazu ein oder gar Feininger, auch Mark Tobey und Jackson Pollack haben solche Bilder gemalt, die auch noch „gothic" heißen. Also was ist eigentlich malen? Für mich, der ich im Jahrhundert der sogenannten Abstrakten Kunst und des Polaroid und der Serigraphie lebe, kann malen doch nicht mehr abbilden oder abstrahieren heißen. Malen ist, das fiel mir bei den Münsterbildern von Hans Rath ein, vergegenwärtigen. Also sind das auch keine Abbildungen, sondern Vergegenwärtigungen.
Ich kann in das Bild hineingehen. Es bleibt nicht bei der Oberfläche. Man kann natürlich auch immer noch in dieses Münster hineingehen und beten. Wozu sonst wäre dieses Portal nützlich und gemalt? Ich sehe zum Beispiel schon an der Außenwand den heiligen Christopherus, ich weiß, daß er da ist, im Bild und am Portal und weiß nun, daß ich an diesem Tag, heute, nicht sterben muß.
Ich kann in das Bild wie in die Kirche hineingehen und auch innen werde ich, allerdings in Glas nicht weit vom Portal, den übergroßen Christopherus sehen. Immer in der Nähe des Portals (heute: EXIT) war der heilige Christopherus zu sehen in den alten Kirchen: Gut sichtbar, übergroß, eine Verheißung, daß der Mensch Tag für Tag vom Tod verschont war, solange er den heiligen Christopherus sah.
Also habe ich ihn in meine Wohnung gehängt, wo ich ihn jeden Tag sehe. Das Bild bewahrt mich heute vor Unselde (mittelhochdeutsch: Unglück). Was du nicht alles weißt! sage ich mir.
Sie müssen sich schon etwas einfallen lassen, wenn Sie bestehen wollen. Eine Erfindung machen zum Beispiel oder als Maler die richtige Farbe treffen. Es gibt so viele schönnamige Farben – ultramarin und indigo zum Beispiel – doch hier herrscht ein Braunton vor, der allerdings leuchtet. Und das Blau des Himmels, der noch über diesem Turm ist, gibt es auch noch. Aber oder denn Kunst ist keine Information, sowenig für mich Literatur etwas mit Information zu tun hat (das wäre eigentlich Sache der Kritik) und auch nicht Unterhaltung. Und wer Kunst mit dem schönen Bild am richtigen Platz an der Wand des Wohnzimmers verwechselt oder mit einer Kapitalanlage, dem kann ich auch nicht mehr helfen. Die Einzelheiten aber bitte ich dem Falttblatt zu entnehmen. Ich verweise auf den Informationsschalter und das Internet: www (world wide web) oder Herrn Heidenreich, der auch ein Münsterexperte ist.
Mir fällt zu den Münsterbildern immer wieder dasselbe ein. Es ist eigentlich kein Gedanke, sondern ein frommer Wunsch: daß auch Sie sähen, was ich sah. Alles andere wäre Autotransport-Logistik.

II.
Vor einigen Tagen las ich in der FAZ, daß der MR. UNIVERSUM in Hollywood gestorben sei. Na sowas! dachte ich. Also macht der Tod auch nicht vor einem Mr. Universum halt. Dabei hätte ich das doch schon wissen müssen, alle Menschen sind sterblich, auch die sogenannten unsterblichen unter ihnen, ob nun Hollywood oder nicht, Mr. Universum oder nicht. Ich hätte es wissen müssen, auch von diesem Turm her, dessen Höhepunkt achteckig ist, wie wir alle wissen, das die Zahl der Ewigkeit ist, wo es eine Nahtstelle von Vierckigkeit (Zahl der Erde) und Achteckigkeit gibt.Jene allgemein als genial bezeichnete Stelle des Freiburg Münsterturms, wo das Viereckige ins Achteckige übergeht, und vom Vergleichlichen ins Unvergleichliche. Und drinnen die Glocken, und eine davon jeden Abend um dieselbe Zeit. Da wollte eine Arme Seele von einst der Vergänglichkeit trotzen oder nur an sie erinnern und will es immer noch. Es war eine Frau, wenn ich mich nicht täusche, die einst viel Geld dafür gab, daß jeden Abend geläutet – oder wie es in meiner schönen Muttersprache hieß – gelitten wird.
Mein erstes Zimmer in Freiburg: Jakob Burckhardt-Straße, der sagte ja, daß dieser Turm der schönste der Christenheit sei. Vielleicht hat er nur ein wenig übertrieben. Wenn ich den Kopf weit genug aus dem Fenster streckte, sah ich links diesen Turm, der nun vor allem eine Nachtschönheit ist. Tagsüber sind die neuen Steine mit bloßem Auge zu erkennen wie auf Hans Rath Münsterbildern.
Nach Freiburg kam ich von Rom her. Ich blieb gute zwanzig Jahre. Cornelia Brunner, mit der ich in Messkirch das Abi gemacht hatte und auch meine erste Reise nach Rom – per Anhalter – wohnte auch im selben Haus. Eines Tages sah sie, wie jemand von diesem Turm sprang und freilich tot war. Sie hat es von dem Eiscafe an der Ecke mitangesehen. Also hat dieser Turm viele Bedeutungen und Funktionen. Unten der Münsterplatz auch. Eigentlich handelt es sich beim Münsterplatz um einen Friedhof, auch wenn der als solcher nicht mehr zu erkennen ist. Ach, jetzt ist sie selbst tot, in diesem schönen Frühjahr anno Domini 2000 einfach verschwunden. Sie war die erste, die mit mir zusammen Gedichte las – und auch machte. Dieses ist von ihr:



Der Krug
Der Krug
geht zum 'Brunnen,
wo er
bricht.


Arnold Stadler, Schreyalm, Mai 2000